"Geschafft"

Erlebnisberichte - Erfahrungen tauschen, Hoffnung schenken

Ein wichtiges Ziel unserer Vereinsarbeit ist die Vernetzung von direkt und indirekt Betroffenen und die Beförderung von Selbsthilfe, denn: Die besten Experten sind diejenigen, die selbst erlebt haben, was es bedeutet, ein krebskrankes Kind in der Familie zu haben, die Krankheits- und Behandlungszeit zu meistern und an dieser Erfahrung zu wachsen. Selbsthilfe reicht weit und basiert auf tiefem Verständnis. Sie schafft ein Gefühl des Geborgenseins und der Verständigung.

Im März 2017 berichteten uns Melia Hilkmann und ihre Mutter von ihren individuellen Erfahrungen. Melia erkrankte im Alter von 17 Jahren an Krebs. Heute hat sie die Krankheit überwunden. Lesen Sie im nachfolgenden Interview, wie Mutter und Tochter die Situation erlebten.

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Ein Interview mit Betroffenen: "Am Anfang war das noch wie Ferienlager"

Melia Hilkmann (Name geändert) ist 17 Jahre und Schülerin der 12. Klasse, als sie an einem aggressiven und seltenen Tumor erkrankt, einem Synovialsarkom an der Halswirbelsäule. Ganze 9 Monate dauert ihre Therapie aus Bestrahlung, Chemoblöcken und Operation, die sie auf der kinderonkologischen Station der Dresdner Uniklinik, in Heidelberg und in Berlin verbringt. Ihr Abi verschiebt sie gezwungenermaßen um ein Jahr, lässt alle Therapien gelassen über sich ergehen und kann der Situation sogar noch Positives abgewinnen.3 Jahre später (2017) erzählen Mutter (Lehrerin) und Tochter gemeinsam, wie sie die Zeit (miteinander) erlebt haben, welche Strategien und Unterstützung sie benötigten, um zu verarbeiten, was sie erlebt haben, und was sie anderen Betroffenen mit auf den Weg geben würden.

Melia, bei dir wurde 2014 ein Synovialsarkom diagnostiziert. Es folgten 9 Monate der Therapie. Wie geht es dir heute – 3 Jahre später – im Allgemeinen?

Melia: Es geht mir gut. Auf die Krankheit bezogen geht es mir heute genauso gut wie damals. Ich habe ja damals nicht wirklich über meine Erkrankung nachgedacht. Ich bin allerdings froh, dass ich so regelmäßige Kontrolluntersuchungen habe, weil mir das schon ein Stück Sicherheit gibt. Im Moment werde ich noch vierteljährlich kontrolliert, aber das wird jetzt weniger werden. Nach dem 3. Nachsorgejahr wird es wahrscheinlich halbjährlich sein. Letztens war ich bei einer Feier leicht angeheitert. Dann denkt man sich: „Ein Glück habe ich ja bald ein MRT…“. (lacht)

Und deine Lebensqualität?

Melia: Die ist auf jeden Fall besser geworden. Vor der Therapie hatte ich unter anderem arge Probleme mit meinen Eltern. Allerdings war wohl eher ich das Problem. Das habe ich damals natürlich ganz anders gesehen. Jedenfalls wurde unser Verhältnis auf einen Schlag besser. Davon abgesehen gehe ich heute noch zweimal pro Woche zur Physiotherapie. Das hat mit der OP zu tun, der Tumor musste ja großräumig am Nacken weggeschnitten werden. Deswegen fehlt ein Teil der Muskulatur und ich bekomme schnell Verspannungen und Kopfschmerzen. Ich habe auch Konzentrationsprobleme, wenn ich nicht regelmäßig zur Physiotherapie gehe.

Frau Hilkmann: Es ist aber vergleichsweise wenig, wenn man das mit anderen vergleicht.

Melia: Das stimmt. Bei den Aufklärungsgesprächen wurde damals sogar etwas erzählt von Querschnittslähmung als eventueller Folgeerscheinung.

Frau Hilkmann, für Sie war es ebenso eine sehr intensive Zeit. Wie geht es Ihnen heute?

Frau Hilkmann: Heute geht es mir gut. Das kann ich so sagen wie es ist. Wir haben die Erkrankung Gott sei Dank überwunden und abgehakt. Aber es war eine schwere Zeit. Ich wünsche das niemandem und hätte gern auf diese Erfahrung verzichtet.

Ist Ihr Leben in einer bedeutenden Hinsicht anders geworden oder leben Sie weitgehend Ihren Alltag wieder so, wie Sie es vor der Erkrankung Ihrer Tochter getan haben?

Frau Hilkmann: Ich habe damals einen Knick gekriegt, der mich weniger leistungsfähig gemacht hat. Aus diesem Energietief bin ich noch nicht wieder vollständig heraus. Es ist, als hätte jemand einen Schalter umgelegt, der immer noch nicht wieder zurückgeschnipst ist. Aber viele Dinge, die ich früher als viel ernstere Probleme aufgefasst habe, sehe ich heute wesentlich lockerer.

Das Synovialsarkom ist ein sehr aggressiver Weichteiltumor. Er ist bei Jugendlichen eher selten. Was hat die Diagnose bei dir ausgelöst, Melia, wie hast du dich gefühlt und wie bist du damit umgegangen?

Melia: In dem Moment, als der Arzt die Diagnose mitteilte, habe ich gar nicht gehört, was er gesagt hat. Ich habe eher die Stimmung gespürt, die im Raum war, und habe gemerkt, dass es eine ernste Stimmung ist. Er hat so intensiv und ernst auf mich eingeredet. Deswegen habe ich in dem Moment einfach abgeschaltet und es vorbeirauschen lassen. So hat sich das bei mir durch die gesamte Therapie gezogen. Ich habe es weggeschoben – und dafür lieber meine freie Zeit und die Harmonie genossen. Und dass ich alles bekommen habe, was ich wollte (lacht).

Du hast also für dich Vorteile sehen können?

Melia: Ja, na klar. Natürlich war ich durch die Erkrankung wieder das kleine Kind. Ich habe aber auch irgendwann versucht, meine Eltern wieder etwas zurückzufahren, weil ich merkte, dass sie sofort reagierten, wenn ich zum Beispiel sagte: „Ach jetzt noch eine Scheibe Käse mehr auf der Schnitte. Das wär‘ ja schön!“. Sie sprangen zum Kühlschrank und legten mir 5 Sorten Käse hin. Irgendwann habe ich einfach lieber nichts mehr gesagt. Ich habe das auch bei sehr vielen jüngeren Kindern im Krankenhaus erlebt, dass sie ganz gezielt ihre Eltern ausnutzten, schon bei 3- bis 4-Jährigen. Andererseits ist das auch gar nicht so unnormal, denke ich. Sie merken eben, dass sie krank sind und dass man sich um sie kümmert.

Hattest du das Bedürfnis, über die Erkrankung zu reden und mit wem? Oder wolltest du lieber deine Ruhe haben?

Melia: Damals wollte ich über das Thema gar nicht reden. Und wenn, dann mit denjenigen, die gerade dasselbe durchmachten. Ich hatte zum Beispiel eine Zimmernachbarin, die mit der Therapie fast fertig war, als es bei mir losging. Mit ihr konnte ich super reden. Sie hat mich echt gut in das Thema eingeführt. Sie hatte ein Osteosarkom im Arm. Ihr fehlte der Oberarmknochen, allerdings eben nur der Knochen, nicht der Arm. Am ersten Tag kam sie zu mir und schwang ihn wabbelnd hin und her und meinte dann zu mir, dass sie jetzt mit ihrem Freund Horrorfilme drehen wollte (lacht). Sowas hat mir geholfen. Aber Gespräche mit Erwachsenen waren für mich nichts. Auch bei Freunden war es mir am liebsten, wenn sie mich ganz normal behandelten. Ich glaube, dass es für ganz viele der betroffenen Kinder am angenehmsten ist, wenn man sie ganz normal behandelt.

Waren Angst und Unsicherheit ein Thema oder warst du dir sicher, dass du wieder gesund wirst?

Melia: Ja, das war ich schon. Das war von Anfang an so. Ich wusste eben, dass dies jetzt eine gewisse Zeit so sein würde mit Krankenhaus etc. Ich wusste einfach nicht, was da noch hätte dazwischen kommen sollen. Auch weil meine Eltern alles so super organisiert haben, hatte ich immer das Gefühl, es ist alles im Griff. Ich glaube, ich hatte nur zweimal in den 9 Monaten eine Art Nervenzusammenbruch, wo ich wirklich geweint habe. Aber ansonsten war ich das blühende Leben! Ich war da ganz positiv eingestellt. Am Anfang hab ich das auch noch als Ferienlager empfunden (lacht). Mir ging es auch selten richtig schlecht. Ich war medikamentös sehr gut eingestellt. Übergeben habe ich mich in der gesamten Therapiezeit nur zweimal. Ich habe mich dann wieder an den Tisch gesetzt und weitergegessen. Das Einzige, was wirklich von Chemoblock zu Chemoblock schlimmer wurde, waren die Schluckbeschwerden.

Frau Hilkmann, wie haben sie die Diagnose empfunden? Sie haben den Anruf von Ihrem Mann bekommen, sie selbst waren gar nicht dabei.

Frau Hilkmann: Als Mutter gehen plötzlich sämtliche Alarmglocken an. Früher haben wir uns schon Gedanken gemacht, wenn das Kind vom Hustensaft Ausschlag bekam. Man ist gleich wieder zum Arzt gegangen und hat gesagt, dass der Hustensaft Nebenwirkungen habe und man etwas anderes bekommen muss. Und plötzlich kommt sowas! Und wenn man dann auch noch die Erfahrung gemacht hat, dass der Spielfreund des eigenen Sohnes an Krebs gestorben ist sowie ein Schüler von mir ... Man hat also Kinder sterben sehen, man hat das erlebt! Da ist natürlich der erste Gedanke, der da in einem aufkommt: Mein Kind könnte sterben! Das war für uns ein großer Schock. Mein Mann und ich, wir haben dann erst einmal die Diagnose gegoogelt und versucht, uns zu belesen. Leider stellten wir fest, dass es gar nicht so viel zu lesen gibt zu dieser Art von Krebs.

Wie verliefen die ersten Gespräche mit den Ärzten?

Frau Hilkmann: Das erste Gespräch mit dem Facharzt war sehr hilfreich für uns – weil er auch mit Melia gesprochen und ihr erklärt hat, was auf sie zukommt. Ich fand das sehr gut, wie er mit ihr umging. Er hat hauptsächlich mit ihr gesprochen, nicht mit uns, und das war auch in Ordnung so, weil sie ja groß und verständig ist. Ich fand es lustig, wie sie noch versucht hat, eine Chemotherapie auszuhandeln, bei der die Haare nicht ausfallen. Er hat ihr jedoch ausführlich erklärt, warum das nicht geht. Jedenfalls haben wir uns erst einmal aufgehoben gefühlt.

Ich nehme an, Angst und Unsicherheit haben Sie die ganze Zeit über begleitet.

Frau Hilkmann: Ja.

Haben Sie für sich Bewältigungsstrategien entwickeln können oder fühlten Sie sich ausgeliefert?

Frau Hilkmann: Im Grunde haben wir uns als Eltern die ganze Zeit ausgeliefert gefühlt, weil einfach nicht genug Zeit war, mit den Ärzten ganz ernsthaft von Angesicht zu Angesicht und auf Augenhöhe zu sprechen. Das war unser Grundproblem, auch wenn die ersten Gespräche sehr gut verliefen. Uns ist im Laufe der Therapie deutlich geworden, dass es für die Ärzte ein Zeitproblem ist. Und wenn man als Patient oder als Eltern auf die Station kommt, kennt man zum Beispiel auch den Unterschied zwischen Chefarzt, Oberarzt und Stationsarzt nicht oder man weiß nicht, dass die Schwestern keine Auskunft geben dürfen. Das sind alles Dinge, die niemand von sich aus mitteilt. Die kriegst du von anderen Eltern gesagt. Das ist schwierig.

Melia, du bist ja mit allem sehr positiv umgegangen. Wie hast du die besorgte Reaktionsweise deiner Eltern empfunden?

Melia: Ich glaube, sie haben sich sehr bemüht, sich ihre Sorge nicht anmerken zu lassen. Ich glaube, man dreht auch einfach nur beizeiten durch, wenn man denkt, dass das Kind jetzt bald sterben wird und man nicht wirklich etwas dagegen tun kann. Ich habe meinen Eltern mit großer Bewunderung dabei zugesehen, wie sie sich da reingeackert und reingehangen haben. Ich fand das nur natürlich.

Das hat dich also nicht extrem belastet, das zu spüren? Oder hat es manchmal sogar etwas genervt?

Melia: Ja, diese Überfürsorglichkeit war teilweise positiv und teils ein bisschen zu viel. Aber wenn ich gemerkt habe, dass meine Eltern völlig fertig waren, hat es mir sehr leid getan. Aber ich war ja in einem Alter, in dem ich wusste, dass ich an sich nichts dafür kann und habe einfach versucht, sie mit meiner guten Laune aufzuheitern.

Frau Hilkmann, wie hat sich ihre Lebenssituation während und nach der Erkrankung verändert?

Frau Hilkmann: Während der Erkrankung, hat alles noch funktioniert. Ich habe meinen sportlichen Freizeitbereich ein bisschen eingeschränkt und in die Anwesenheit im Krankenhaus haben mein Mann und ich uns hineingeteilt. In Heidelberg gab es ja sogar eine 24-Stunden-Elternpräsenz. Wir haben das alles, auch mit der Hilfe von Kollegen, abgedeckt, konnten aber beide noch arbeiten gehen – gestaffelt eben, wie das Leute machen, die in Schichten arbeiten. Wir hatten das große Glück, dass Melias Bruder schon erwachsen war und wir nicht noch ein kleines Geschwisterkind betreuen mussten. Wir konnten uns also um unser Kind kümmern und unserer Arbeit nachgehen. Die Kollegen hatten viel Verständnis und haben irgendwie versucht, uns das zu ermöglichen. Letztlich haben wir das für uns alles organisiert bekommen, auch wenn es schwierig war. Und als ich dann dachte, jetzt sei alles überstanden, kam bei mir der große Knall.

Das heißt?

Frau Hilkmann: Ich bekam einen sehr schlimmen Bandscheibenvorfall, der mich in eine Spezialklinik brachte. Die ganze Behandlung zog sich ein halbes Jahr hin. In dieser Zeit stellte sich dann auch eine posttraumatische Belastungsstörung heraus. Melia ging zu dieser Zeit schon wieder zur Schule. Eigentlich hatte ich erwartet, dass wir es jetzt geschafft haben. Stattdessen wurde es immer schlechter – also für mich.

Ab welchem Zeitpunkt haben Sie sich psychologische Hilfe gesucht und wo?

Frau Hilkmann: Ich hatte mir schon während der Erkrankung von Melia psychologische Hilfe bei der Psychologin der Kinderklinik, Frau Dr. Kreisch, geholt, weil sich das eine oder andere an der Situation für mich schon als schwierig erwies. Sie war für mich da, als Melia stationär aufgenommen war. Nach der stationären Behandlung habe ich mir dann bei Herrn Kamm [Psychologe beim Sonnenstrahl e. V. Dresden] Hilfe gesucht.

Bei welchen Themen haben sie dabei besondere Unterstützung erfahren?

Frau Hilkmann: Ich konnte zum Beispiel überhaupt nicht aussprechen, dass es passieren könnte, dass meine Tochter stirbt. Das war mir gar nicht möglich. Im Gespräch  hat er mich aber irgendwie dazu gezwungen, es doch auszusprechen und ab dem Moment hatte ich die Möglichkeit, es auch einer Freundin gegenüber so zu formulieren – und dann auch mal die Tränen fließen zu lassen. Davor hatte ich das verdrängt. Es durfte nicht sein. Dass er mich in gewisser Weise gezwungen hat, war gut.

Gab es noch andere Themen, die Sie aufs Tableau bringen mussten oder wollten?

Frau Hilkmann: Ja, er hat sich auch meinen Alpträumen angenommen und wusste vor allem, wie man damit umgeht.

Haben Sie auch mit anderen Therapeuten darüber gesprochen?

Frau Hilkmann: Ja. Da Herr Kamm mit mir ja keine Trauma-Therapie machen konnte, habe ich mich nach Abschluss von Melias Therapie um eine Reha bemüht. Dort bekam ich dann aber gesagt: „Sie müssen aufhören, gegen die Alpträume zu kämpfen.“ Da war ich ratlos. Ich habe mich gefragt, wie ich das machen soll.

Das heißt, Sie bekamen gesagt, was Sie tun sollen, aber nicht, wie Sie das schaffen können?

Frau Hilkmann: Genau. Und Herr Kamm hat mir nicht gesagt „Sie müssen gegen die Alpträume kämpfen“. Er hat mich einfach von den Alpträumen erzählen lassen und gefragt, was dahinterstecken könnten. Wir haben also richtig nach der Ursache gesucht. Nach unseren Sitzungen habe ich dann oft drei bis vier Nächte gut schlafen können und dachte, es sei vorbei. Doch dann bekam ich einen neuen Alptraum. Und wirkliche Alpträume sind ja nicht nur einfach schlechte Träume, die am Tag wieder verfliegen. Man wacht schreiend und weinend auf mit starken Schmerzen und Herzrasen. Mein Mann konnte mich nicht jede Nacht trösten, er brauchte auch seinen Schlaf. Und mein krankes Kind erst recht nicht. Das Tolle war, ich brauchte Herrn Kamm nur anzurufen. Und immer, wenn ich das Gefühl hatte, dass wir etwas aus dem Unterbewusstsein ins Bewusstsein transportiert hatten, war der Alptraum auch erst mal wieder weg.

Melia, wie ich mitbekommen habe, wurden deine Lebenspläne gar nicht so sehr durcheinandergewirbelt außer, dass du dein Abitur nicht machen konntest. Worin bestand eigentlich der große Bruch in der Zeit, sofern es ihn gab?

Melia: Wie gesagt, ich war Halbjahr 12. Klasse und hatte noch keine Ahnung, was ich danach machen will. Ich hatte nur vage Pläne und habe mir wenige Gedanken gemacht. Deshalb war das schon ein Einschnitt, aber es war ein positiver. Ich habe später auch zu meinen Eltern gesagt, dass man sich in den ersten Wochen der Therapie unheimlich schnell entwickelt, geistig meine ich. Man fängt an, über Sachen anders nachzudenken und sich dann auch mal zu kümmern.

Noch mal Thema Eltern-Kind-Verhältnis: Du bist ja im Pubertätsalter erkrankt, wo man sich eigentlich abnabelt von den Eltern. Hast du es als Rückschritt empfunden, noch mal Kind zu sein?

Melia: Auf jeden Fall in der Hinsicht als einen Rückschritt, dass man von den Eltern noch einmal so sehr verhätschelt wurde. Aber ich empfand das als sehr positiv, weil unser Verhältnis dadurch viel enger wurde und man gemerkt hat, man kann auch erwachsen werden und sich mit seinen Eltern gut verstehen (lacht). Das geht tatsächlich auch. Das war sehr heilsam.

Hast du auch psychologische Unterstützung in Anspruch genommen?

Melia: Während der Therapie eigentlich nicht. Ich wollte meine Ruhe haben. Aber nach der Beendigung der 12. Klasse war ich hier bei Corinna Neidhardt [Sonnenstrahl e. V. Dresden] und das war richtig super, weil ich ihr alles habe erzählen können. Es war auf Abifahrt viel passiert, dann waren da noch Sachen mit meinem Freund – alles durcheinander. (Zu ihrer Mutter:) Und es war wie bei Herrn Kamm bei dir. Man kommt mit Kopfsalat zu ihr, dann hat man das auseinandergenommen und nach einer oder anderthalb Stunden ist man gegangen und war sortiert. Wir haben dann auch eine Planung gemacht, wie es die nächsten Jahre weitergehen soll und wo ich hin will. Das war richtig super. Wir haben nicht sehr viele Sitzungen gebraucht, aber die waren sehr gut.

Frau Hilkmann, was würden Sie aus Ihrer Erfahrung heraus betroffenen Eltern mit auf den Weg geben?

Frau Hilkmann: Alle Hilfe anzunehmen, die sie angeboten bekommen. Das wäre das Wichtigste.

Sich also nicht zurückziehen, sondern zu schauen, was einem die Hilfsangebote bringen?

Frau Hilkmann: Ja, man muss es nur probieren. Ich bin ja hier sehr positiv überrascht worden.

Melia, was würdest du einem betroffenen Altersgenossen sagen?

Melia: Dass er es schon schafft (lacht). Kinder haben für sich schon so ein Urvertrauen, dass wir das schon hinbekommen werden und dass man sich das nicht nehmen lässt. Ich habe noch keinen in einem jugendlichen oder Kindesalter erlebt, der sich da ernsthaft Gedanken drüber gemacht hätte. Die waren alle mit einer sehr positiven Lebenseinstellung dabei. Eigentlich haben alle, die ich kennenglernt habe, gesagt „Und wenn ich noch mal einen Rückfall bekommen sollte oder wenn ich daran sterbe, die Zeit, die ich jetzt habe, die nutze ich!“

Und das würdest du Ihnen auch mitgeben: positiv denken!

Melia: Ja, und auch den Eltern. Dass sie Vertrauen in ihr Kind haben sollen.

Vielen Dank für das Mut machende Interview!